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Sag es allen Leuten - Über das Ende einer Reise

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Hallo ihr lieben Menschen,

in einem Monat erscheint mein neues Album "Sag es allen Leuten" offiziell im mairisch Verlag auf LP und bei allen gängigen Streamingplattformen.

Für meine Leute und alle anderen, die sich schon vorher hierher verirren, stelle ich die fertige Platte jetzt schon hier online.

 



Here it is ... ein Album über Festgefahrenheit, Depression, Resilienz und zuletzt übers Loslassen.

 

Am Handy "Listen in browser" auswählen.


Ein kurzer Disclaimer: Vielleicht hört ihr euch wirklich erst die Platte an, bevor ihr hier weiter lest. Ich nehme hier sonst ein paar Dinge vorweg und vielleicht wollt ihr die Musik ja auch für sich sprechen lassen und anschließend gar nichts mehr über die Entstehung und meine persönliche Verbindung zum Album erfahren.

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass "Sag es allen Leuten" das Licht der Welt erblicken darf. Vor nicht allzu langer Zeit war ich mir noch nicht mal sicher, ob ich mich nach meiner depressiven Episode und all den Erlebnissen und Erkenntnissen der letzten Jahre (ausführlich nachzulesen HIER und HIER) überhaupt nochmal mit meiner Gitarre auf eine Bühnen stellen wollen würde, geschweige denn nochmal ein Album veröffentlichen. Aber dann haben mich meine langjährigen Freund:innen vom Hamburger mairisch Verlag gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könne, mit einer neuen Platte von mir ihre anstehende 100. Veröffentlichung abzugeben. An dieser Stelle nochmal ganz viel Liebe und Dank an Daniel, Peter und Nefeli. Ohne euren Stupser und eure Hilfe hätte ich mich wohl nicht nochmal mit meiner Musik auf die Reise begeben und die war wirklich eine wichtige für mich ...

Zusammen mit der digitalen EP "Das Ende der Geschichte" (vier schöne Songs, die 2020 mitten im schnellen Tanz der Pandemie leider ein wenig untergegangen waren), hatte ich schon acht Lieder zusammen und mit meiner Coverversion von Marcus Wiebuschs tollen "Was hätten wir denn tun sollen", kam schon bald und relativ unverhofft ein neuntes dazu.

Ich nahm also Demoversionen der neuen Stücke auf, traf mich mit meinem Freund und Lieblingsdrummer Jonny König auf eine erste Studiosession in Mannheim und machte parallel nach langer Pause erste Gehversuche auf der Bühne, in kleinem, geschützten Rahmen. Mir wurde dabei schnell bewusst, dass die Lieder viel zerbrechlicher waren als alles, was ich bisher in meinem Leben aufgenommen hatte. Bei meinen Auftritten musste ich immer wieder mit den Tränen ringen und konnte auch nicht immer alles spielen, was da auf meiner Setlist stand, weil ich selbst noch zu sehr in der Verarbeitungsphase war. Und auch im Studio wirkte jeder Trommelschlag und jeder Versuch, das Arrangement "runder" zu machen, wie ein Übergriff. Das war alles noch viel zu nah und fragil, als dass ich an den Songs hätte "arbeiten" können. Sie waren die noch frischen Narben einer schmerzvollen Zeit in meinem Leben, bei der es trotz allem wichtig war, dass ich sie er- und durchlebt habe. Da gab es einfach nichts zu beschönigen.

Das hat zur ungewöhnlichen Situation geführt, dass auf "Sag es allen Leuten" bis auf den letzten Titel kein einziges Lied mit der Intention aufgenommen wurde, auf einem Album zu erscheinen. Da sind die ersten vier Tracks, die eigentlich mal "Das Ende der Geschichte" waren. Da ist "Ein Geräusch", das ich in den dunkelsten Stunden der Pandemie in meinem Keller für mich festhalten wollte (ich hatte es am selben Tag innerhalb von 20 Minuten geschrieben). Da ist "Vom aufrechten Gang", das ich im Herbst auf irgendeinem Parkplatz in Frankfurt spontan in meinem Camper aufgenommen hab, nachdem ich eine traurige Nachricht von einem guten Freund bekommen hatte (wenn man die Ohren spitzt, kann man gegen Ende der Aufnahme hören, wie es anfängt, auf das Busdach zu regnen). Da sind eine unverhoffte Coverversion, ein Wohnzimmer-Demo mit herzzerreißend schönem Cello und ein Live-Mitschnitt von einem kleinen Videodreh in der Küche. Das wichtige war für mich nicht, dass die Aufnahmen möglichst gut klingen, sondern dass die Lieder in den richtigen Momenten festgehalten wurden.

Die Platte hat dadurch ungeplant eine ganz natürliche Dramaturgie bekommen. Da ist die A-Seite, auf der ich noch viel mehr im Außen bin, die großen gesellschaftlichen Fragen drehe und wende und mit dem Zeitgeist und der kollektiven Depression ringe, während ich selbst langsam in meine eigene hinein rutsche. Und da ist die B-Seite, auf der ich zu mir komme und mich von den dunkelsten Punkten aus mit einem Auf und Ab langsam und behäbig zurück in die Lebendigkeit wühle. Alles im Bewusstsein, dass beide Seiten eng miteinander verknüpft sind. An der Stelle muss ich erwähnen, dass meine langjährige Freundin Denise Henning für das Artwork, wie ich finde, ganz wunderbare und vor allem in ihrer Einfachheit treffende Bilder für die Worte und die Musik gefunden hat. Danke dafür!

Auf Konzerten merke ich, dass sich das Publikum bei einigen der neuen Lieder in zwei Hälften teilt. Viele hören aufmerksam zu, wie sie es sonst meistens bei meiner Musik tun, aber ein paar Menschen schießen direkt die Tränen in die Augen und ich kann in ihren Blicken lesen, dass sie genau verstehen oder besser - nachfühlen können, von was ich da gerade singe. Ein simpler Satz wie "Es ist schön, dass du da bist" wirkt wohl ganz anders, wenn man schonmal erlebt hat, wie es sich anfühlt, sich darüber selbst nicht mehr ganz sicher zu sein. Ich für meinen Teil hab dem Album gegenüber übrigens auch sehr ambivalente Gefühle. Beim ersten Anhören der finalen Mixe, auf der Regiecouch im Tonstudio, musste ich erstmal heulen, weil mir in dem Moment bewusst wurde, dass ich da ein ziemliches Päckchen aus mir heraus transportiert und in eine Form gegossen habe (okay, da heul ich also schon wieder ... hab ich öfters in den letzten Jahren und ganz ehrlich: ich hätte schon viel früher damit anfangen sollen). In dem Moment habe ich verstanden, dass Heilung unwahrscheinlich viel mit Kreativität zu tun hat und gespürt, was für ein verdammt langer Weg hinter diesen Liedern steckt. Wie sehr meine musikalische Auseinandersetzung doch mit meiner persönlichen verknüpft ist. Die gleichen Themen von Melancholie, Isolation und einem ewigen Hadern mit der Welt treiben mich seit dem ersten Spaceman Spiff-Album "Bodenangst" um (das damals ironischerweise auch "unbeabsichtigt" aufgenommen wurde). Ich hab diese Themen in meiner Musik intuitiv über mehr als anderthalb Jahrzehnte umkreist, immer wieder neu verhandelt, hab mich an ihnen gerieben, hab sie in der Weltgeschichte verteilt, sie gedreht und gewendet und bin nun an einem Punkt und in einer Tiefe angekommen, wo ich glaube, sie endlich loslassen zu können. Das hat übrigens nicht allein mit der Musik zu tun, sondern auch mit Therapie, einer 500 km langen Wanderung durch Südfrankreich, überwundenem Scham, Körperarbeit und mühsam erlernter Selbstakzeptanz. Und ja, was soll ich auf Sätze wie "Ich versuche meine Abscheu für die Menschheit mit der Liebe für die Menschen zu vereinen" oder "Das Leben ist bedeutungslos - doch keine Angst, das hat nichts zu bedeuten" auch noch über mein (und vielleicht unser aller) Hadern schreiben? Ich denke mir das alles ja nicht aus.

Das jüngste Ergebnis meiner Reise höre ich mir seitdem immer mal wieder an. Manchmal komme ich in die Stimmung aus der Regie im Tonstudio zurück, fühle mich erleichtert und bin bewegt. Manchmal macht es rein gar nichts mit mir. Und manchmal ist da eher ein Unbehagen und keinerlei Bedürfnis, an diesen Ort und in diese Zeit zurückzukehren, wo ich das alles doch hinter mir lassen möchte. Ich hab ehrlich gesagt noch keine Ahnung, wie ich damit auf den anstehenden Konzerten umgehen soll. Ich schwanke zwischen Leichtigkeit bzw. der Lust, unterwegs zu sein, um euch einfach ein bisschen Musik vorzuspielen und der Sorge davor, wenn ich nicht aufpasse, irgendwann zu meinem eigenen traurigen Pappaufsteller zu werden. Ich will und kann mich eigentlich nicht immer und immer wieder in diese Gefühlswelt hinein begeben. Vor allem nicht auf Knopfdruck. Es ist sicher ganz gut, sich die eigenen Narben ab und an vor Augen zu halten, aber wahrscheinlich ist es weniger gesund, beharrlich an ihnen herumzukratzen.

Ihr merkt schon, ich hab das hier viel mehr für mich selbst gemacht als für euch oder irgendein Publikum da draußen. Vielleicht können die Lieder ja trotzdem der Einen oder dem Anderen von euch den Tag versüßen und im schönsten Fall sogar ein paar Bilder mit auf den Weg geben, um sich anschließend besser mit den eigenen Baustellen - den eigenen blinden Flecken - auseinander setzen zu können. Sprecht gerne darüber. Zeigt das, was in euch lebendig sein möchte, was in den Gliedmaßen kribbelt, von innen gegen die Bauchdecke klopft, sich aber eigentlich nicht klar in Worte fassen lässt. Und wenn ihr dann, aus guten Gründen, keine Worte findet, spürt all dem nach, weint oder lacht darüber, atmet tief ein und aus und tauscht ein paar ehrliche Blicke aus, wenn ihr irgendwo ein Gegenüber findet, das sie aushalten und vielleicht sogar zurückgeben kann. Seid mutig und  begegnet dem Grau, dem Zynismus, der Isolation und der Verbitterung mit den Werkzeugen, die ihr in euch findet. Wir tun das immer noch viel zu selten in dieser sonderbaren Zeit ... Sag es allen Leuten.


Da ist schon lange diese Ahnung
ich hatte immer den Verdacht
dass die unwirklichen Momente
am Ende doch die echten sind

 

Okay, ich glaube für heute hab ich genug geschrieben. Wenn ihr mir für die Lieder eine Spende zukommen lassen möchtet, könnt ihr das nach wie vor gerne HIER tun. So ein Album in die Welt zu setzen ist leider immer noch fies teuer. Danke für die Unterstützung!

 

"Hannes ... dir ist klar, dass du danach keine neuen Lieder mehr schreiben kannst. Zumindest nicht auf die Art und Weise", meinte neulich eine Freundin zu mir (witzigerweise ist sie Psychologin), nachdem sie sich gerade das letzte Lied der Platte angehört hatte. Also den Moment, an dem endlich alles gesagt ist, man loslassen kann, die Worte der Musik weichen und der Verstand dem Gefühl. Ich hab sofort verstanden, was sie meint. Oder sie hat verstanden, was ich meine. Ich hatte jedenfalls genau den gleichen Gedanken, als ich die fertige Platte zum ersten Mal im Tonstudio angehört habe. Naja, weiter gegangen ist es bisher ja trotzdem immer irgendwie. Und ich hab da auch schon so ein paar Ideen.

Danke euch fürs Hinhören.

Euer

Hannes

 

Ich hab mir übrigens nicht die Haare blondieren lassen. Auch wenn das Licht auf dem Pressefoto es ein bisschen so wirken lässt, als wär aus mir zwischenzeitlich ein Sufer-Boy geworden.
Ich hab mir übrigens nicht die Haare blondieren lassen. Auch wenn das Licht auf dem Pressefoto es ein bisschen so wirken lässt, als wär aus mir zwischenzeitlich ein Sufer-Boy geworden.


P.S. Über ein paar Themen die hier angeschnitten wurden, hab ich neulich recht ausführlich mit Judith Holofernes in ihrem Podcast gesprochen. Ich würde euch die Episode hiermit nochmal wärmstens ans Herz legen. Vor allem in der zweiten Hälfte der Folge wurde es tief und emotional und auch ein bisschen utopisch. HIER könnt ihr reinhören.

P.P.S. Jetzt hab ich glatt die Credits zur Platte vergessen. Mit dabei waren:

Text & Musik - Hannes Wittmer
außer Track 5 - Marcus Wiebusch

Gesang, Gitarre, Bass, Synth, Beats, Flimmern & Flirren - Hannes Wittmer
Cello, Gesang - Clara Jochum
Drums - Jonny König
Bass (3) - Kilian Brand
Posaune - Tobias Link
Altsax - Max Schweder
Trompete - Christian Altehülshorst

Gesang (10) - Katharina Kollmann aka Nichtseattle

Recording Drums - Jonny König

Recording Bläser -  Niklas Schneider

Mix (1-4) - Kilian Brand

Mix (5-10) - Timon Kirstein im MusikZentrum Hannover
Master - Piet Charlet bei Time Tools Mastering


Artwork - Denise Henning

P.P.P.S. So langsam füllen sich auch die Tourdaten für das nächste Jahr. Bei allem Wankelmut, den ihr hier gerade herausgelesen habt, freue ich mich wirklich sehr auf die Konzerte.

P.P.P.P.S. Last but not least:

Ein nicht unerheblicher Teil dieses Textes ist wohl gerade so aus mir raus gekommen, weil ich noch unter den Eindrücken einer sogenannten "Heldenreise" stehe, die ich über den Jahreswechsel mitgemacht habe. Das Ganze lässt sich ganz grob als ein "Persönlichkeitsentwicklungsseminar" bezeichnen, was dem, was ich dort erlebt habe, aber alles andere als gerecht wird. Mehrere Freund:innen hatten mir die Reise schon seit Jahren empfohlen, aber vor allem wegen des spirituell anmutenden Titels und des Mysteriums, das um die Erfahrung gemacht wird, hatte ich mich bisher noch nicht dazu durchgerungen. Es war wohl die intensivste Woche meines Lebens. Ich hab dort Menschen auf eine Art und Weise untereinander und mit sich selbst in Verbindung gehen und sich zeigen sehen, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte, und durfte selbst einer von ihnen sein. Es lässt sich schwer beschreiben, aber ich hab gefühlt auf eine Art und Weise Therapie gemacht, wie ich sonst meine Lieder schreibe, intuitiv und ohne groß nachzudenken. Und ich hab erfahren, wie unfassbar viel Weisheit in so einem Körper steckt, wenn man nur lernt, richtig hinzuhören. Am Ende hab ich dabei ein großes Stück Frieden gefunden. Ich wollte das hier noch kurz teilen, weil ich glaube, dass die Welt eine bessere wäre, wenn mehr Menschen diese Erfahrung machen würden. Frei steht es allen:
https://irgendwie-anders.de/ueber-uns.html


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